Original geschrieben von Ar Gwenn
Die Frage wird vielleicht sein, ob der Großteil der tunesischen Bevölkerung bereit ist, so kurz nach dem Ablegen des alten Jochs ein neues Joch auf sich zu nehmen (siehe iranische Revolution).

Marcus


Glaube nicht, dass dies wirklich die Frage ist, da das Volk ja nicht weiss, ob die Zukunft ein Joch sein wird. (Im Iran war es die propagierte aeussere Bedrohung, welche die innere Repression (bis jetzt) "glaubhafter" machen soll! Aber auch dort wird die Luft fuer die Herrschenden sehr duenn.)

Die Lage in Tunesien ist voellig anders. Hier gibt es keinen aeusseren Druck, der dirigistisch willkuerliche, oder despotische Massnahmen (zumindest fuer Teile der Bevoelkerung) akzeptabel machen koennte. Dafuer gibt es inzwischen ueber 60 politische Formationen und einige Wahlbezirke, die mehr als hundert (!) Kandidaten aufgestellt haben.
Von diesen absurden Vorgaben wird wahrscheinlich die islamistische Ennahda am meisten profitieren, da sie eine echte Organisation darstellt. Um den Zweiflern die deutliche Angst vor islamistischen Bestrebungen zu nehmen (und in der Vergangenheit gab es wegen etlicher Programmpunkte dafuer gute Gruende), verweisst man dort nun auf die Tuerkei als Modell.
Es koennte deshalb der Fall eintreten, dass diese Partei mit nur etwas mehr als 20 % die Mehrheit erreicht. Mit wem wuerde sie also koalieren? Als wirklich demokratische Legitimation koennte dies beim schwierigen Neuanfang sicher auch nicht gelten - ganz abgesehen von den salafistischen Splittergruppen, die dadurch ploetzlich ebenfalls eine ueberproportionale Bedeutung erlangen wuerden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es eben deshalb direkt im Anschluss an die Wahlen Probleme geben wird, die nicht nur in hitzige Debatten muenden! Und auch die ungezuegelte Gewalt beim oestlichen Nachbarn - die bisher nur sporadisch ueber die suedliche Grenze schwappte - wird noch lange in den Koepfen ihre Wirkung entfalten.

Die Revolution hat die Angst beseitigt (und das ist mehr, als man z.Z. von vielen anderen Laendern sagen kann!), doch nun waechst dafuer die Sorge. Es gibt nicht wenige - besonders junge und gerade noch sehr aktive - Revolutionaere, die zunehmend entmutigt sind. Sie werden - wie man hoert - nicht waehlen, aus Ratlosigkeit! Sie haben die Sorge, dass ihre Stimme missbraucht werden koennte; wem sollen sie vertrauen?
Im wirtschaftlichen Krisen-Bereich Metlaoui/Gafsa/Sidi Bouzid haben sich die materiellen Bedingungen seit Ben Ali's Sturz nicht verbessert. Bei andauernden 40% Arbeitslosigkeit macht sich Resignation breit; ein Hauch von Schwermut liegt dort ueber dem Land.

Ganz anders in F, wo ueber 300 000 Tunesier leben. Hier sind die Erwartungen - und Hoffnungen - fuer einen Neuanfang sehr gross. Die Wahl laeuft schon und der Andrang bei den Wahllokalen ist eindrucksvoll.