Schöne Geschichten :-)
Nachfolgender Artikel stand Anfang des neuen Jahrtausends in der Zeit.


Der 'Struck'

Es waren einmal ein Großmaul und ein Kleinmaul. Eines Tages sprach das Großmaul zum Kleinmaul: »Was hältst du von einem Abenteuer? Komm mit, steig ein, wir fahren ins Gelände.« - »Au ja!«, rief das Kleinmaul begeistert. Und so stiegen sie in ein großes schwarzes Auto und fuhren in einen tiefen, dunklen Wald namens Ummel.
Die Sonne schickte sich gerade an, blutrot im Moor zu versinken, da hielt das Auto. »Warum halten wir?«, fragte das Kleinmaul. Das Großmaul antwortete: »Um erstens die Geländeuntersetzung einzuschalten und zweitens die Differenzialsperren von Verteilergetriebe, Hinterachse und Vorderachse zu aktivieren, und zwar in dieser Reihenfolge. Und jetzt schau dir die Pfützen da links an.« Da links war ein sehr zerwühlter Waldarbeiterweg mit außerordentlich tiefen Pfützen. Das Großmaul nahm Schwung, und mit Karacho ging's ins Gelände. Moorwasser spritzte links und rechts, das große Auto wühlte sich durch den Schlamm, ein Baumstamm, dick wie ein Elefantenbein, lag im Weg. Ein Dröhnen, das Auto bäumte sich auf - und stieg hinüber. Das Kleinmaul jubelte. »Mut muss der Geländefahrer zeigen und Draufgängertum. Niemals zögerlich darf er sein!«, rief das Großmaul.
Nur: Auf einmal ging es nicht mehr voran. Zurück ging es auch nicht mehr. Das Auto mit einem Neuwert von knapp 100.000 Euro - und das Auto war neu - steckte mit den Vorderrädern bis zum Bodenblech im Morast. »Oh«, sagte das Großmaul. »Au weia«, sagte das Kleinmaul. Sie hatten insgesamt eine Strecke von 7,50 Metern im Gelände zurückgelegt.

(Was folgte, war ein Fußweg von einer halben Stunde, Bauer Lüers mit dem großen Trecker, Bauer Lüers, wie er den Kopf schüttelte, und eine halbe Stunde Bergung, wobei sich Bauer Lüers zweimal um ein Haar selber festfuhr. Und 20 Euro Abschleppkosten.)

Auf der Autobahn, vor dem Eiscafé, auf dem Behördenparkplatz und eben im Matsch: ein enormes Auto, dieser - ähem - dieses - nun ja - diese G-Klasse. Seinem großen Geländefahrzeug hat Mercedes alles spendiert, was teuer ist. Nur keinen anständigen Namen. Was soll das, G-Klasse! Station-Lang! Stellen wir uns für einen Augenblick Elvira vor. Elvira, ganz in Loden, wie sie aufgeregt ihrem Gatten zuruft: »Hubertus! Wir müssen los! Die Wildschweinjagd beginnt.« Und wie Hubertus antwortet: »Sekündchen, Schatz, ich fahre sogleich die G-Klasse vor.« Oder sogar: »Momento, Herzchen, ich haste, den Langen zu holen.« Soll ein Auto G-Klasse heißen? Es ist nicht einfach, eine Klasse zu lieben. Will man etwa einen Langen pflegen? Oder gar als Besitzer der Kurzversion seinen Kurzen besingen? Wie viel schöner wäre doch ein Name wie Mercedes Struck. (Und, lieber DaimlerChrysler-Konzern: Warum nicht statt Mercedes S-Klasse Mercedes Westerwelle? »Ich fahre einen Engholm«, freute sich der E-Klasse-Besitzer. Die A-Klasse aber sollte Mercedes Merkel heißen. Oder Mercedes Momper! Und so weiter.) Im Test also: der Mercedes Struck 400 CDI Station-Lang - kantig, faltig und grimmig wie ein Fraktionsvorsitzender.


Nie sah dieses Vehikel einen Windkanal von innen

Es ist Nacht. Endlich. Kleinmaul liegt im Bett. Ein Mann nähert sich seinem Auto am besten allein. Vor mir ragt der Struck. Ein automobiler Anachronismus aus steilem Blech und Glas. Nie sah dieses Vehikel einen Windkanal von innen. Ich halte die Fernbedienung in der Hand wie ein Stück Hundekuchen. Es geht hier nicht um Aufschließen, sondern um Entriegeln. Das Klacklacklack hallt durch die Wohnstraße. Anwohner schieben die Vorhänge zur Seite. Die Wagentür öffnet sich wie eine Feuerschutztür. Ich steige nicht ein, sondern auf. Hinter mir fällt die Tür nach dreimaligem kräftigem Zuwerfen ins Schloss. Ich bin ein bisschen gefangen. Und ein bisschen gerettet.

Zündschlüssel! Wenn das Wort je galt, dann hier. 96 Lämpchen flammen im Cockpit auf, sechsundneunzig! Jedes Einzelne weist auf eine Funktion hin. Dieses Auto ist kein fun car! Der Blick wandert weiter, über eine gigantische Motorhaube hinweg, auf der zur Strecke gebrachte Wildschweine abgelegt werden können. Vorn links und rechts hocken Krokodilaugen auf der Haube, das sind die Blinklaternen. Irgendwo weit weit vorn beginnt das nächtliche Verkehrsgeschehen. Hoch über diesem thront der Fahrer. Und die Maschine summt. Dann brummt sie. Dann brüllt sie. Der Achtzylinder, damit wirbt der Hersteller, ist der stärkste Pkw-Seriendiesel der Welt, Eingeweihten aus dem Mercedes Westerwelle bekannt. Die Maschine katapultiert das zweieinhalb Tonnen schwere Auto in weniger als zehn Sekunden auf 100. Ermöglicht bei Gegenwind 180, mit Rückenwind 200 Sachen. Ich möchte nicht der sein, der mich im Rückspiegel herantoben sieht.


Der Struck - was ist das?

Er ist so teuer wie die Kleinwagenflotte eines mittelständischen Kurierdienstes. In der Grundausstattung. Die getestete Wurzelholz - Leder - Metallic - Schiebedach - Fernseh - Spracherkennung - Sitzheizung - Navigations - Rückfahrhilfe - Version schlägt mit weiteren zwei Kleinwagen (exakt 17.910,40 Euro) zu Buche. Das ist das aufgemotzteste Unnutzfahrzeug, das man sich denken kann. Einerseits. Er ist aber auch eines der letzten in Handarbeit gefertigten Serienautos, handgeschraubt und mundgeblasen bei Steyr-Daimler-Puch in Graz (auch ein guter Name fürs Auto: Mercedes Graz!). Schwielige Schlosserhände haben aus klobigen Quer- und Längsträgern seinen altertümlichen Leiterrahmen gefügt. Die Starrachsen montiert. Fast eine Tonne Zuladung ist erlaubt. Als zulässiges Gesamtgewicht stehen für den Lastzug mit gebremstem Anhänger knapp sieben Tonnen in den Papieren. Wer tote Wildschweine transportieren muss oder Schiffe abschleppen, darf sogar sagen: Ich bewege ein Nutzfahrzeug. Der Struck, so viel ist sicher, ob nützlich oder unnütz, ist ein Lastwagen. Im Prinzip 20 Jahre alt und seinerzeit fürs Militär und für die Forstwirtschaft entworfen. Beim Militär heißt er Wolf. Auch nicht schlecht.


Bei den Fachschülerinnen in der Eisdiele blitzt der Struck leider ab

Nun sollte, wer den Nutzen eines enormen Fahrzeugs diskutiert, den Herrn im gewissen Alter nicht vergessen. Der glaubt nämlich, ein enormes Auto zöge die Blicke attraktiver und umgänglicher Damen auf sich und könnte vielleicht sogar den Wunsch in ihnen wecken, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen. Die Testfahrt führt mich vor die Eisdiele Aldo, die regelmäßig werktags gegen 10.30 Uhr von etwa 20 schnatternden, nach Achselhöhlenstift duftenden Kosmetikfachschülerinnen frequentiert wird. Als die Kosmetikfachschülerinnen aus der Schule an mir vorbeilaufen, registriere ich erstaunt, dass weder Auto noch Fahrer auch nur bemerkt werden. Es gelingt mir allerdings mehrfach, anderen Geländewagen-fahrern aufzufallen - eine wichtige Information für Menschen, die gern von Geländewagen-fahrern wahrgenommen werden.

So bleibt der Struck-Fahrer allein. Gut so! Denn nur in Einsamkeit erlebt er in voller Intensität, was ihm das Auto tatsächlich schenken kann: Der Fahrer des Struck genießt nämlich eine Autorität, die das Leben ihm sonst verweigert. Auf der Autobahn, dem wahren Revier des Struck, ist das so genannte Überholprestige unvergleichlich. Wenn der Struck kommt, weichen Sonntagsfahrer erschrocken auf die Standspur aus. Oberlehrer lassen ihre Oberlehrergesten. Und halsstarrige Vectra-Fahrer werden einfach vom Druck der verdrängten Luft aus der Spur gefegt. Das nämlich ist das eigentliche Geheimnis des Mercedes Struck 400 CDI Station-Lang: dass wir mit ihm eines der letzten Fahrzeuge besitzen, die sind wie wir selber (was nur niemand ahnt): stark, schnell, kühn, wertbeständig und mit einem Testverbrauch von über 18 Litern ein Säufer vor dem Herrn. Mit einem Wort: maskulin.

Stefan Alsen für die ZEIT


G-ruß Frank