Wir alle wissen, dass der Maghreb vor enormen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen steht. Mit der Diktatur fiel nicht unbedingt auch das System der Unterdrueckung, die sich ja sehr vielfaeltig zeigen kann und dafuer nicht unbedingt einen Ben Ali braucht! (Marokko's konstitutioneller Weg verdient in diesem Zusammenhang - schon wegen der Probleme mit Nachbar Algerien - einen noch differenzierteren Blick, als die "Laender der Revolution".)

Vor wenigen Tagen ein TV-Beispiel fuer Tunesien: Die tunesische Filmemacherin Nadia El Fani (unter Ben Ali noch zwangsweise im Exil) drehte im April eine Dokumentation Titel: "Weder Allah, noch maître", welchen sie dann aenderte in: "Laizismus - so Gott will!" Diese Demonstration geistiger Unabhaengigkeit loeste eine wilde islamistische Protestwelle im Internet aus, auf deren Heftigkeit viele Tunesier erschreckt reagierten. Neben beleidigenden Fotomontagen, Aufforderungen zur Vergewaltigung usw. gingen auch Morddrohungen bei der Regisseurin ein. Dass im Sommer bei der Auffuehrung im Kino der Saal von Radikalen gestuermt wurde, verwundert in diesem Moment nicht, denn die neuen Strukturen muessen erst noch gefestigt werden. Schlimmer ist aber, dass islamistische Rechtsanwaelte (die den Film nicht einmal gesehen hatten!) Strafanzeige gegen die Kuenstlerin erheben konnten; wegen "Angriff auf das Heilige"!
Nicht nur in Europa, sondern auch in Tunesien selbst, hat niemand die Revolution kommen sehen - trotz der himmelschreienden Armut im Sueden und der drueckenden Korruption im ganzen Land. Auch von der islamistischen (verfolgten) Ennahda kamen keinerlei Hinweise. Und doch scheint es jetzt sie zu sein, der ein deutlicher Wahlerfolg am 23.10. zugetraut wird. ("Le Point")
Ihr Praesident Rached Gnannouchi erklaerte, ein "demokratische Regime auf der Basis des Islam" errichten zu wollen. Das koennte wirklich spannend werden, da es dafuer kein einziges Beispiel in der arabischen Welt gibt!

Die Mittelklasse schweigt jedenfalls verunsichert, die Linke haelt sich bedeckt und nur mutige Zeitgenossen sagen offen: "Wir haben uns gerade erst aufgerichtet - und das haben wir nicht getan, um auf den Knien zu enden!"