In der Wildnis des Nordens

Ein Reisbericht von Dipl. Biol. Stefan Pastor (von nature Tours)

Der Bericht ist sehr umfangreich und mit vielen Bildern. Leider sind die Bilder qualitativ nicht so besonders gut, da nur eine kleine Kamera zur Verfügung stand. Der Bericht selbst, ist so packend und lebendig geschrieben, dass eigentlich kein Foto notwendig ist, um die Faszination der Wildnis zu erleben.

Viel Spaß beim Lesen wünschen euch Stefan & viermalvier.

 

 

In der Wildnis des Nordens

 

1. Der „Ruf der Wildnis“

Es war September im Jahr 2000. Ich führte eine kleinen Gruppe von fünf Personen auf einer naturkundlichen Exkursion durch die Vildmark Värmlands in Schweden. Vildmark bedeutet übersetzt Wildnis.
Wir waren mit meinem treuen alten Land Rover auf dem Weg ins Exkursionsgebiet und wollten in Lennarts Blockhauscamp die Nacht über bleiben. Nach dem Abendessen machten wir es uns an der offenen Feuerstelle im Blockhaus gemütlich. Wir unterhielten uns über alles mögliche, als mich Christian, einer der Teilnehmer fragte: „Wie lange machst du diese Wildnistouren jetzt eigentlich schon?“ „Beruflich seit drei Jahren“ antwortete ich, „privat schon sehr viel länger.“ „Da warst du aber auch noch nicht alt, damals? Bist du da einfach abgehauen, hier hoch, oder was? Erzähl doch mal“ forderte er mich auf. Und weil sie mehr wissen wollten, habe ich, zum vielleicht hundertsten Mal, die Geschichte erzählt, wie ich dazugekommen bin, Reisen in die Wildnis zu unternehmen.
Ich erinnere mich gerne an diesen Anfang zurück, und dann habe ich meine damaligen Gedanken glasklar vor Augen.

 

Kanada, 05. September 1982

„Der Abend gestern war herrlich. Ich habe mein Nachtlager in einer kleinen Senke an einem bewaldeten Hang in vielleicht 1500 m über Meereshöhe aufgeschlagen. Ich schlafe, wann immer möglich, unter freiem Himmel, höchstens suche ich mal unter den ausladenden unteren Ästen einer Fichte oder Tanne Schutz oder spanne bei wirklich schlechtem Wetter meinen Regenponcho als schräges Dach auf.
Etwa zwei Stunden nach Mitternacht hat mich eine ungewohnte Erscheinung geweckt. In einem Zelt hätte ich es vielleicht auch gar nicht bemerkt, aber so habe ich mein erstes Nordlicht gesehen! Bunte Bänder zogen über den Himmel, als ob er sich zu langen, halb transparenten Streifen verdichtet hätte, die im Wind wehen. Die leuchtenden Bänder zerfielen immer wieder und bildeten neue Formationen.
Dabei durchliefen sie unwirklich wirkende, teils blasse, teils leuchtende Farben. Es ist kein Wunder, daß sich Menschen früherer Zeiten, die in kleinen Sippen oder Stämmen diesen Bergen, Seen und Wäldern eine Existenz abgerungen haben, solche Erscheinungen nur als von übernatürlichen Mächten verursacht erklären konnten.
Und jetzt bin ich hier und konnte dieses Schauspiel genießen.
Ich bin 19 Jahre alt und zum ersten mal alleine auf einem fremden Kontinent unterwegs. Eine seit Kindheitstagen vorhandene, unbändige Natursehnsucht hat mich schließlich irgendwo in die Berge zwischen den Rockies und den Cassiar Mountains im Grenzbereich British Columbia und Yukon Territory geführt.
Genauer weiß ich meine Position nicht, und es interessiert mich auch gar nicht. Alles was ich diesbezüglich wissen muss ist, dass ich mich etwa fünf Tagesmärsche östlich des Cassiar Highways 37 befinde, vielleicht auf halbem Weg der rund 240 Kilometer langen Strecke zwischen Dease Lake und Watson Lake.
Der Highway 37 ist ein etwa 20 Pick-up-Autostunden langes, schmales Band, übersät mit Schlaglöchern, das sich durch eine unvorstellbar weite, atemberaubend spektakuläre Wildnis schlängelt und die schnellste Verbindung zu dem Teil der zivilisierten Welt ist, den ich vor etwa sieben Wochen verlassen habe.
Ich bin alleine in einer wilden, menschenleeren Welt, in die ich mich oft hinein geträumt hatte. Die schier endlose Weite vor mir, Bergrücken an Bergrücken, unterbrochen von schroffen oder von sanften Tälern mit Seen und Flüssen bis zum Horizont, scheint mich vollständig einzunehmen.
Ich habe ein Gefühl, das einer Mischung aus Angst vor der eigenen Courage und einer tiefen, glücklichen Empfindung gleicht, es gewagt zu haben, meinen Traum nicht nur zu träumen. Ich habe mich im Wald immer wohl gefühlt, aber wie es dann sein würde, wirklich in der Wildnis zu sein, konnte ich kaum ahnen, geschweige denn vorhersagen. Aber nun bin ich hier und auch wenn ich mir bewusst bin, ein Chechaquo, ein „Greenhorn“ zu sein, weiß ich, dass ich einen wichtigen persönlichen Sieg errungen habe. Ich gewinne dieser unvorstellbar großen und mächtigen Wildnis trotz aller Unsicherheit mehr Zuversicht, Kraft und Lebensfreude ab als sie mir, im Bewusstsein meiner Unerfahrenheit und Verwundbarkeit, Furcht einzuflößen in der Lage ist.
Jetzt weiß ich dass den Stand an Wissen und Fähigkeiten, den ich mir als Ziel gesetzt habe, erreichen kann.“

Das waren meine Gedanken damals, festgehalten in meinem Tagebuch.

Heute, fast zwei Jahrzehnte später, kann ich als Zwischenbilanz festhalten, dieser Weg, den ich damals eingeschlagen hatte, ist der richtige für mich gewesen. Ich dachte mir, die besten Chancen, die Welt zu verstehen hätte ich, wenn ich das intuitive Wissen eines Naturmenschen mit den Erkenntnissen der modernen Wissenschaften vereinen könnte. Natürlich habe ich mein Ziel noch lange nicht erreicht, aber bisher habe ich zusammengenommen mehrere Jahre meines Lebens in den Wäldern Kanadas und Skandinaviens verbracht und als ich es an der Zeit fand, habe ich Naturwissenschaften studiert.
Ich war alleine in der Wildnis, mit Freunden oder habe Gruppen geführt. Tagebuch schreibe ich schon lange nicht mehr, jenes Leben dort draußen ist mir so vertraut wie das hier im Kreis meiner Familie. Alles, was die Natur an Empfindungen im einsamen Wildniswanderer zu wecken vermag habe ich unzählige Male durchlebt.
Heute bin ich Pendler zwischen diesen beiden Welten, aber geblieben ist eine Begeisterung wie am ersten Tag für die ungezähmte Wildheit der Natur.
Für alle unter euch, die ähnlich fühlen wie ich damals oder heute, möchte ich diese Geschichte in Kurzform aufschreiben, ein wenig von dieser Welt da draußen erzählen und euch einladen, mit mir zusammen eine kleine Wanderung in die Weite des Nordens zu unternehmen. Wo diese Wanderung tatsächlich stattfinden würde, ob in Schweden, Kanada, Sibirien oder irgend wo sonst im borealen Gürtel, ist eigentlich ziemlich egal, die Wälder sind sich alle ähnlich und nur ihre menschlichen Bewohner wissen von den politischen Grenzen.


2. Der Weg nach Nordwesten

Einem Guide muss man sich anvertrauen können, auch auf einer nur erzählten Reise. Den einen oder anderen nämlich mögen solche Geschichten vielleicht dazu ermutigen, selbst einen lange gehegten Reisetraum in die Tat umzusetzen, und da müssen sie, wenn auch aus Platzgründen mit vielen Lücken behaftet, so sorgfältig erzählt werden wie eine wirkliche Tour durchgeführt werden sollte. Darum möchte ich mich kurz vorstellen, damit ihr wisst, wer das eigentlich ist, der diese Zeilen geschrieben hat.

Geboren bin ich im Winter des Jahres 1962. Bereits bei Schuleintritt war mir klar, dass ich Waldläufer oder Naturforscher werden wollte.
Ich war viel im Wald unterwegs und Tiersendungen im Fernsehen habe ich mir selten entgehen lassen. Mein schulischer und beruflicher Werdegang hat mich aber zunächst in eine technische Richtung geführt. Die Sehnsucht, die Wildnis kennen zu lernen hatte ich aber immer in mir, und die Frage, ob ein moderner Mensch noch genug vom Erbe seiner Urahnen in sich trägt, um sich in echter Wildnis mit möglichst wenig Hilfsmitteln zurechtzufinden, hat mich nicht losgelassen und wurde im Laufe der Jahre immer stärker.
Das Wissen, das dazu nötig wäre, sich in der Wildnis zurechtzufinden, konnte mir in der zivilisierten Welt aber niemand vermitteln und so habe ich beschlossen, sozusagen in der Natur selbst noch einmal zur Schule zu gehen. Es war mir dann zwar überhaupt nicht wohl in meiner Haut, als ich am 24. Juli 1982 alleine in ein Flugzeug nach Vancouver stieg, aber ich konnte nicht anders. Es war meine erste große Reise. Ich hatte seit jeher eine starke Bindung zu meiner Familie, aber, so kitschig es auch klingen mag, der „Ruf der Wildnis“ war stärker als alles andere.

Ich hatte schlecht geschlafen in der Nacht vor der Abreise und der Abschied von meinen Eltern, Großeltern und Freunden war schmerzhaft.
Ehrlich gesagt, ich hatte keine Ahnung, was ich tun würde, wenn ich erst „drüben“ wäre oder was mich erwarten sollte. Bis vor kurzem war ich mit meiner Gesellenprüfung beschäftigt gewesen. Ich hatte eine Einreise-Kurzinfo gelesen, ansonsten wusste ich wenig Aktuelles vom Land. Um es vorweg zunehmen, ich war in vielen Dingen eher lässig vorbereitet und auch ziemlich naiv. Meine Vorstellung vom zivilisierten Teil Kanadas hätte doch besser in die Zeit um 1900 gepasst als in unsere.
Aber was solls, ich war jung und enthusiastisch und ich war schließlich nicht der erste, den die Realität so ein bisschen den Kopf zurechtgerückt hat. Insgesamt gesehen habe ich aber auf jeden Fall das Kanada gefunden, das ich gesucht hatte. Naturkundlich kannte ich mich besser aus, aber das brachte mir im Moment auch nicht viel. Ich versuchte, die wirre Mischung aus Jack London Geschichten, Bob Dylan Songs, Tierreportagen , Zivilisationsmüdigkeit, Survivaltips aus Büchern, bisherigen eigenen Wandererfahrungen und Abschiedsschmerz irgendwie auszusortieren und mir langsam zu überlegen, was ich denn tun würde nach meiner Ankunft. Ich hatte ein Ticket für den Rückflug in 3 Monaten dabei und 2500 kanadische Dollar, verteilt an mehreren strategischen Stellen am Körper und in der Kleidung. Dass ich mit dem Geld auch ohne teure Übernachtung in Motels oder Jugendherbergen sparsam sein musste, war klar, es war alles was ich hatte.
Auch kostspielige Fortbewegungsmittel schieden weitgehend aus. Alles was ich wollte, war, so schnell wie möglich in die Wildnis zu gelangen und so wie ich die Sache sah, war trampen wohl die einzig praktikable Lösung. Der Vorteil war, ich würde Leute kennen lernen und etwas über das Land und das Leben hier erfahren. Wenn ich Glück hatte, würde ich vielleicht sogar jemanden zu finden, von dem ich etwas über „living of the land“ im Busch lernen konnte.
Immerhin hatte ich nun einen Plan, doch während des gesamten Fluges auch ein recht flaues Gefühl im Bauch. Dieses Gefühl änderte sich auch nicht gerade zum Besseren, als die Maschine der Air Canada gegen 16:00 zur Landung in der Zwei-Millionen-Stadt Vancouver ansetzte.
Ich komme aus einer Kleinstadt, in der es damals noch nicht einmal eine Ampel gab und meine einzige vorherige Begegnung mit einer Großstadt war die Fahrt zum Flughafen in Frankfurt gewesen.
Aber ich hatte nicht viel Zeit zu denken, ich musste erst die Einreiseformalitäten hinter mich bringen. Die Immigration Officer waren sehr freundlich und als ich dann endlich im Freien auf kanadischem Boden stand, waren erst einmal alle Sorgen vergessen. Trotz meiner Müdigkeit aus mittlerweile eineinhalb schlaflosen Tagen stellte sich ein ordentlicher Motivationsschub ein.
Buchtitel wie „Abenteuer des Schienenstranges“ gingen mir durch den Kopf, „Alaska kid“ und „Nordlandgeschichten“. Würde schon werden, mein persönliches Nordland-Abenteuer konnte beginnen!

 


 

3. Zwei Millionen ist einer zu viel

Ganz klar, ich wollte raus aus der Stadt, unbedingt, heute noch. Ich stieg in den Stadtbus nach Downtown Vancouver (selbst Stadtbus fahren war mir Landei neu!) und habe versucht, in der richtigen Reihenfolge das Richtige zu tun. Dabei habe ich auch meine erste Lektion in „Unterwegs sein in fremden Städten“ gelernt: Wenn ein Klo vorhanden ist, nutze es, wer weiß, wann das nächste kommt!“ Die Frage nach einer Toilette rutschte im Laufe der Fahrt allmählich ganz nach oben auf meiner Wunschliste und ich war dann recht froh, endlich am Busbahnhof anzukommen.
Ich bin dann noch kurz einkaufen gegangen und nach einer Weile fragte ich zuerst mich und dann den nächstbesten Busfahrer wie ich denn am besten aus der Stadt kommen würde und er sagte: „Mit mir, Junge. Ich habe noch eine halbe Stunde Mittagspause, steig ein, ich bring‘ dich zum Stadtrand“.
So bekam ich eine Gratis-Stadtrundfahrt, und stellte fest, dass Vancouver eine sehr schöne Lage hatte. Fast von überall aus konnte man die umliegenden Berge sehen.
Nachdem mir der Fahrer „Good luck“ gewünscht hatte, stellte ich mich an die Straße und hielt den Daumen raus. Und ich hatte Glück, mein erster „Ride“ brachte mich direkt ins Grüne.
Da es auch schon dunkel war, legte ich mich auf eine kleine Lichtung im angrenzenden Wald und holte erst einmal ausgiebig Schlaf nach.

<>

Am nächsten Morgen überlegte ich, wie ich jetzt am besten weiter machen sollte.
Der Osten interessierte mich nicht so sehr, ich wollte in den gebirgigen Westen und nach Norden. Ich hatte mir überlegt, dass es im hohen Norden ja früh im Jahr Winter werden würde. Dafür war ich nicht ausgerüstet.
Überhaupt war meine Ausrüstung recht, na ja, nennen wir es übersichtlich: sie bestand aus einer Garnitur kurzer und langer Unterwäsche, zwei Paar Socken, einem ärmellosen Wollunterhemd, einer selbstgenähten Lederhose, einem Baumwollhemd, einer Lederjacke, Mütze, Hut und Wanderstiefeln. Weiterhin hatte ich einen dünnen Sommerschlafsack, ein Fahrtenmesser, eine zweieinhalbpfündige Axt, Streichhölzer, eine Winchester „thirty-thirty“ ( es war damals keine besondere Genehmigung für den Besitz von Jagdwaffen nötig, die „Gun License“ die ich zum Führen des Gewehrs brauchte, gabs im Sportgeschäft und kostete 7 Dollar), 100 Schuss Munition, Feldflasche, 30m Kletterseil, Fotoapparat, Tagebuch, Stift, Zahnbürste, Nähzeug, einen Taschenkalender, eine Übersichtskarte und einige Fotos von zuhause dabei, außerdem ein Buch eines damals bekannten deutschen Weltreisenden und Jägers, das im Rahmen von Jagdgeschichten beschrieb, wie man in der Wildnis überlebt ( Die Überlebenstricks haben sich in der Praxis als völlig unbrauchbar erwiesen, aber immerhin ließ es sich gut lesen, hat die Stimmung in der Wildnis recht anschaulich wiedergegeben und richtig Laune aufs loslaufen gemacht ).
Das ganze habe ich in einem Baumwoll-Rucksack verstaut und auf eine Alu-Kraxe gebunden.
Insgesamt spiegelte die Ausrüstung zwar zum einen eine gewisse Erfahrung aus längeren Wanderungen in den heimischen Wäldern wider, zum anderen aber auch eine Menge Unerfahrenheit, was denn Aufenthalt in der Wildnis anbelangte: Die Axt hatte eine ungünstige Form, die Munition war viel zu viel und zu schwer, das Kaliber für die gelegentliche Jagd auf kleines Wild zum Nahrungserwerb eher zu stark, die Kraxe zu unpraktisch, das Messer zu groß und unhandlich und das Seil viel zu lang und zu dick. Immerhin hatte ich nichts wirklich Unbrauchbares dabei und zählte außerdem in unerschütterlichem Vertrauen auf mein Improvisationstalent und die Bereitschaft, die Dinge so zu nehmen, wie sie eben kommen würden.
Damals wie heute war mir zuviel Besitz eher hinderlich und wenn ich alleine in den Busch gehe, dann möchte ich den Puls der Wildnis spüren können und mich möglichst wenig abgrenzen.
Also, wie gesagt, ich wollte hoch nach Norden und mir den Westen Kanadas von Norden nach Süden ansehen. Ich nahm mir die einzige Karte vor, die ich dabei hatte, nicht gerade eine Wanderkarte, sondern eine Übersicht über ganz Kanada im Maßstab 1 : 5 300 000. Ich orientierte mich kurz auf dem Papier und wie in Leuchtschrift sprangen mir die Worte DAWSON CITY , etwa 1900 km Luftlinie (!) von Vancouver, kurz vor der Grenze nach Alaska gelegen, ins Auge. Klar doch, Dawson City, Yukon River, Alaska, Goldrausch, schwingende Saloontüren, Trapper und Indianer.
Ich überlegte mir kurz, daß ich im Maßstab auf der Karte etwa einskommazwei zehntausendstel Millimeter groß gewesen wäre, und machte mich auf den etwa einen halben Meter langen Weg.

 


 

4. Go north, young man!

Mit dem alten Pionierspruch auf den Lippen streckte ich den Daumen in den Wind.
So verging die nächste Zeit, und nach einer knappen Woche hatte ich mich daran gewöhnt, dass zwischen den Ortschaften meist Entfernungen von mehreren hundert Kilometern lagen und mein durchschnittlicher Lagerplatz im Busch einige Autostunden von der nächsten Stadt entfernt lag.
Die Welt war groß und herrlich und ich fühlte mich wie ein moderner Hobo, jene Helden meiner Kindheit, die den amerikanischen Kontinent an und unter Zügen hängend oder auf deren Dächer liegend durchquerten.
Eines Tages hielt mal wieder ein staubiger Pick-up Truck (ich war inzwischen auf der Alaska Hiway unterwegs, und die war damals noch nicht geteert) und Ed, der Vorarbeiter eines nahegelegenen Holzfällerlagers lud mich ein, meinen Rucksack auf die Ladefläche zu werfen und einzusteigen. Er meinte, sie hätten im Camp mit einem Bären Probleme gehabt, und in einer darauffolgenden Auseinandersetzung wäre der Bär angeschossen geworden. „Pack mal lieber dein Gewehr aus“, riet er mir, bevor er in eine Seitenstraße zum Lager einbog, das sei zwar nicht erlaubt auf dem Hiway, aber “ who fuckin‘ cares, better a bad guy than a dead guy“ der Grizzly könne sich noch hier herumtreiben und sei sicher gefährlich in seinem Zustand.
Ich nahm mir seinen Rat zu Herzen, setzte mich auf meinen Rucksack und wartete etwa zwei Stunden etwas verspannt mit dem Gewehr quer über den Knien bis ich das nächste Auto hörte.
Inzwischen war es auch schon fast dunkel geworden, und die Bärengeschichte hat mich doch ziemlich unruhig warten lassen. Ich hatte absolut keine Lust, hier zu übernachten und deshalb stellte ich mich halb in die Fahrbahn und machte den Fahrer des sich nähernden Autos durch Winken auf mich aufmerksam.
Auf die Idee, dass meine Geste, im Halbdunkel an der Straße zu stehen, und mit der einen Hand zu winken, während ich in der anderen eine Winchester hielt, irgendwie missverstanden werden könnte, kam ich in meiner Erleichterung, jenem seinerseits sicher ziemlich unglücklichen Bären zu entkommen, gar nicht. Wohl aber der Fahrer. Er stoppte das Auto vor meinen Füßen mit einer Vollbremsung in einer Staubwolke und hielt die Hände in Höhe seines Gesichtes etwa einen Viertelmeter vom Lenkrad weg.
„Excuse me please“, sagte ich höflich durch das offene Fenster der Beifahrerseite, noch immer vollkommen unbedarft, „can you give me a lift?“ „Sure, throw your stuff in the back“ presste der Fahrer angespannt hervor, und dann erleichtert „dammed, you guy scared the shit out of me, I thought this is a hold-up!“
Jetzt erst begriff ich, bin eingestiegen und habe mich tausendmal entschuldigt.
Es ist schon erstaunlich, wie dämlich man sein kann, wenn man ohne Erfahrung vollständig damit ausgelastet ist, sich in ungewohnten Situationen zurechtzufinden.
Am nächsten Truck Stop lud ich ihn auf eine Tasse Kaffe und ein Sandwich ein. Es war ein junger Kerl, vielleicht 25, und wir hatten uns gut verstanden. Wir haben noch viel gelacht, während der nächsten sechs Stunden gemeinsamer Fahrt.
Ich habe immer während des Trampens darauf geachtet, lieber zwischen zwei Ortschaften auszusteigen, als nachts in einer Stadt festzusitzen. Der Hiway war zu dieser Zeit ideal für mich. Ich hatte einerseits die Rückzugsmöglichkeit zur Zivilisation, konnte einkaufen, und die Sicherheit, dort auch immer wieder Menschen treffen zu können, andererseits war dieses Schotterband kaum mehr als eine (ziemlich abenteuerlich) befahrbare, meist so um die 200 bis 500 km lange Verbindung zwischen zwei Ortschaften.

Ich habe immer tiefere Wanderungen von der Straße aus in den Busch unternommen, das war echte Wildnis, und habe mich so an die Weite des Landes und an die totale Eigenverantwortung für mich selbst gewöhnt. Es ging mir großartig und mit der Einsamkeit und den Heimwehattacken kam ich auch immer besser zurecht.
Ich bin dann also hochgetrampt nach Dawson, das damals noch recht verwahrlost war. Auf den Straßen war nichts los, nur ein Jäger oder Trapper, der ein Gewehr über der Schulter trug und einen abgewetzten Rucksack auf dem Rücken, ging, begleitet von einem Hund, mitten auf der Straße. War schwer zu sagen, ob er gerade aus dem Wald gekommen war oder sich eben auf dem Weg dorthin zurück machte.
Die Stadt sah genauso alt und benutzt aus wie sein Rucksack, und ich fand es einfach klasse. Das hier war echt, ein Relikt der Geschichte.
Am Ufer des Yukon, gleich am Stadtrand, dort wo auf alten Bildern die Zelte der Neuankömmlinge zur Zeit des Goldrausches zu sehen sind, habe ich aus Treibholz und meinem Regenponcho eine notdürftige Unterkunft gebaut. Dann bin ich in den Westminster Saloon gegangen und habe mir ein Bier gegönnt.
Die lebendige Geschichte habe ich aber wohl doch etwas großzügig interpretiert, denn nach Vorbild des Jägers, den ich gesehen hatte, habe ich mein Gewehr mit in die Kneipe genommen, wo hätte ich es auch lassen sollen? Die Handvoll anderer Gäste, ziemlich verwegen aussehende Typen, haben kaum zu mir hergesehen, als ich durch die Eingangstür kam, nur der Wirt sagte mir, als er dann mein Bier brachte, es sei üblich, Waffen an der Theke abzugeben. Die Polizei (es gab nach Auskunft eines Beamten der RCMP Dawson, der Royal Canadian Mounted Police, mit dem ich später einmal etwas geplaudert habe, übrigens erst seit den 60er Jahren eine Polizeistation hier oben) sähe das ohnehin nicht so gerne, wo das offene Tragen von Waffen ja eigentlich verboten wäre. Ich reichte ihm mein Gewehr und er stellte es in eine Ecke zu einigen anderen.
Ich hatte Glück in meiner Naivität, ginge man heute so in ein Lokal ins mittlerweile für den Tourismus aufpolierte Dawson, würde man vermutlich sofort verhaftet. Damals war das zwar genauso illegal, aber das Leben dort oben war doch noch „pretty loose“, wie mich „Wild Bill“, der im Sommer auf der kleinen Fähre arbeitete und am Stadtrand unter einer 12 Quadratmeter großen Plastikplane mit seiner indianischen Frau lebte, wissen ließ. Und einen älteren Indianer, den ich gefragt habe, ob er wisse, wie spät es eigentlich sei (ich hatte ja keine Uhr dabei) meinte freundlich: „Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich meine es ist Samstag…“
Dafür, dass es eine Stadt im zwanzigsten Jahrhundert war, hat es mir wirklich gut gefallen, damals dort oben.

 


 

5. Goldsucher und andere Abenteurer

Ich habe mich also eine Weile in und um Dawson herumgetrieben, bin in Indianercamps im Busch und von Goldsuchern am Bonanza Creek eingeladen worden und habe etliche interessante Leute kennen gelernt, die mit zum Teil recht abenteuerlichen Booten den Yukon hochgefahren sind. Meist waren sie auf dem Weg nach Alaska, um nach Gold zu suchen, und haben in Dawson einen Stop eingelegt.
Goldgräber, die aus Alaska kamen, hatten häufig Revolver oder Pistolen (die in Alaska legal, in Kanada aber illegal waren) im Hosenbund, Rucksack oder im Handschuhfach ihrer Pick-ups.
So richtig störte sich da auch niemand dran, es kam auch nie mal ein Polizist ‚runter um irgendwas zu kontrollieren.
Am Strand des Yukon brannten jede Nacht so vier, fünf Lagerfeuer, obwohl es wegen der nördlichen Breite nicht lange dunkel war und es herrschte ein tägliches Kommen und Gehen. Fremde wurden Freunde oder suchten „Geschäftspartner“, Freunde zerstritten sich darüber, zu welchen Anteilen der zukünftige Reichtum aufzuteilen wäre und allerlei Geschichten wurden erzählt. Meist hielten sich so um die zehn Leute am Strand auf. Immer wieder habe ich an Orten wie diesem hier in der Folgezeit Vietnam-Veteranen kennen gelernt, die sich nie wieder in der Gesellschaft zurechtgefunden hatten und die oft ohne ein wirkliches Ziel das Land durchstreiften.
Ich war damals immer der jüngste, die nächsten waren so Anfang zwanzig, und die alten Kämpen fanden das gut, dass wir schon unterwegs waren.
Außer Kanadiern und Amerikanern, die das Gros ausmachten, traf man Schweden, Polen, Norweger, selten auch andere Nationalitäten und ab und an mal einen deutscher Abstammung.
Alle diese Leute waren wochenlang auf ihrem Weg zum Glück durch die Wildnis gereist, und viele hatten interessante Lebensläufe zu berichten. Sie hatten definitiv den Geist der alten Pioniere in sich und schlugen sich irgendwie mit einem Mischmasch an legalem Jagen, Wildern, Goldsuchen und Gelegenheitsjobs durch, aber keiner den ich kennen lernte, kannte sich wirklich aus oder versuchte das Leben da draußen zu verstehen.
Ich wiederum interessierte mich nicht besonders für Gold und nachdem ich genügend über faustgroße Nuggets gehört hatte, die sonst wo vermutet wurden und warum diese Männer ihre Frauen verlassen hatten, fand ich, es war an der Zeit, weiter zu ziehen.
Ich genoss die abenteuerliche Gesellschaft, aber ich begann, mich nach der Stille der einsamen Wanderungen zu sehnen.

Überhaupt war die ganze Goldgräberei Umweltvernichtung erster Güte. Die haben mit riesigen Pumpen ganze Wälder einfach weggewaschen. Vorne war Wald, dann kam die Front der Goldsucher wie ein Schwarm Wanderheuschrecken, und hinter ihnen blieb der nackte Kies als Abraum übrig. Zusammen haben die Flächen umgegraben, da hätte man etliche deutsche Bundesländer daraus machen können.
Am frühen morgen des nächsten Tages ging ich am Ortsschild der Stadt vorbei, auf der Straße, die mich vom Polarkreis wieder weiter wegbringen würde.
Die nächsten drei Wochen vergingen damit, langsam Richtung Süden zu trampen, wieder unterbrochen von Märschen, die immer ein Stückchen weiter in den Busch führten.
Das Land war unglaublich schön, aber nirgends wollte ich länger bleiben, es hat mich immer weiter getrieben.
Irgendwann kam ich auf meinem Weg nach Süden durch Muncho Lake, einem Ort an der Hiway 97 im nördlichen B.C. Ich hatte gerade eine achtstündige Fahrt im Regen auf der offenen Ladefläche eines Pick-ups hinter mir und war, trotz dem ich mich mit dem anderen Passagier, dem etwa bernhardinergroßen Hund des Fahrers, zu einem großen Knäuel zusammengerollt hatte, völlig ausgefroren.
Als wir in Muncho Lake ankamen, war es etwa eine Stunde vor der Abenddämmerung.
Muncho Lake bestand, soweit ich sehen konnte, im wesentlichen aus einer Tankstelle, einem Cafe, einem Jagdcamp, einigen bewohnten und etlichen verlassenen Hütten etwas abseits an der Straße.
Ich bedankte mich beim Fahrer für den Ride und ging in die Gaststube. Ich war der einzige Gast, und obwohl ich mich in erster Linie aufwärmen wollte, fiel es mir doch recht angenehm auf, eine hübsche, weibliche Bedienung in meinem Alter hinter dem Tresen vorzufinden. Um der Wahrheit genüge zu tun: Mir sind fast die Augen ‚rausgefallen. Noch erfreuter war ich, als sie, trotzdem ich inzwischen durch die Reise schon ziemlich Patina angesetzt hatte, an meinen Tisch kam, mir unaufgefordert einen Kaffee brachte und sich setzte.
Nun hatte ich bis dahin nur sehr selten Kaffee getrunken, auf Geburtstagen oder wenn es sich sonst nicht vermeiden ließ, aber ich wollte ihn nicht ablehnen.
Sie war sehr nett und sah auch noch klasse aus, und das brachte mich nach den ganzen Wochen, in denen ich kaum mal eine Frau auch nur von weitem gesehen hatte, doch einigermaßen durcheinander. Bis dahin hatte ich kein Problem, alleine zu sein, ich hatte gerade eine gescheiterte Beziehung hinter mir und war eigentlich ganz froh, nichts Frauenähnliches um mich zu haben. Doch wir haben uns prima unterhalten und ich stellte fest, dass ich dann doch gelegentlich Mühe hatte, ihr einigermaßen konzentriert zuzuhören und gedanklich nicht zu weit abzuschweifen.
Sie goss immer wieder Kaffee nach, den ich genau so wenig ablehnen wollte, und nach der vierten Tasse hatte ich langsam ernstlich Bedenken, ob ich wohl je wieder würde schlafen können. Plötzlich meinte sie: „Feierabend! Ich habe eine kleine Sauna, hast du Lust mit zu kommen?“. Ähhhhhhh, wie? Ich weiß nicht warum, eigentlich war ich alles andere als abgeneigt, aber just in dem Moment schoss mir der Beziehungsstress der letzten Monate vor meiner Abreise durch den Kopf, und bevor ich überhaupt nachdenken konnte, sagte ich. „Oh, wirklich gerne, eigentlich schon, aber leider muss ich jetzt los“.
Sie hat mich angesehen als sei ich nicht ganz richtig im Kopf, und ich wusste im gleichen Moment, sie hat recht! Ich muss jetzt los, wohin denn und warum? Draußen ist es stockfinster und ich habe noch gut sechs Wochen Zeit, bis mein Flugzeug geht.
Ich habe dann versucht, das Beste draus zu machen, habe mich bedankt, meine Sachen genommen und bin rausgegangen, als ob es jetzt halt unbedingt so sein müsste und ich gar nichts dafür kann.
Die Tür fiel hinter mir ins Schloss und ich bin stehen geblieben und habe ganz leicht mit der Stirn gegen einen der Dachpfosten geklopft, aber zum Umkehren war es zu spät.
Ich bin dann ein paar hundert Meter in den Wald gegangen, habe mich hingelegt und über meine Dummheit geärgert. Dazu hatte ich dann auch reichlich Zeit, weil ich wegen des vielen Kaffees bis zum Morgen kein Auge zugemacht habe.
Zwei Jahre später kam ich übrigens wieder an dieser Stelle vorbei und ich konnte nicht widerstehen und habe durch die Tür mal vorsichtig ins Lokal geschielt. Sie war immer noch da und sah noch genau so klasse aus.
Da der Laden aber wegen eines Reisebusses, der Pause machte, brechend voll war, bin ich nicht hineingegangen. Ich war auch nicht mehr dort seitdem.

Eines Tages kam ich dann nach Williams Lake, einer Stadt in B.C. und stand an einer großen Kreuzung. Die eine Straße ging in Richtung Vancouver, doch soweit nach Süden wollte ich noch nicht, der Osten interessierte mich nicht, von Norden kam ich gerade, also blieb nur Westen.
Bei der zuständigen Behörde habe ich mir dann eine Jagdlizenz für kleines Wild in British Columbia sowie eine Angellizenz besorgt, im Gegensatz zu heute war das kein Problem damals und kostete 34 Dollar.
Ich hatte kein konkretes Ziel, als ich mich an die Straße stellte. Der Zufall führte mich dann ins etwa 200 km weit entfernte Nemiah Valley.

Roy, so hieß der Indianer, der mich mitgenommen hatte, ließ mich am Westende des Tals aussteigen und sagte mir, dass es hier das Reservat der Xeni gwet’in (sprich: Hanni kotin) gab und die Gegend ansonsten so gut wie unbewohnt war.
Ich bin dann noch etwa 3 Stunden gewandert und kam schließlich am Ufer eines großen Sees, dem Chilko Lake an, der inmitten gewaltiger Gebirgsmassive lag.
Der Anblick verschlug mir den Atem. Das war der Platz, nachdem ich gesucht hatte. Wenn ich mir vorgenommen hatte, in der Natur in die Schule zu gehen, so war dies hier mein Klassenzimmer.
Ich suchte mir eine geeignete Stelle für ein Camp am Strand und begann sozusagen sofort mit meinem Unterricht.
Ich bin das Seeufer entlang gewandert und in die Berge gegangen. Ich habe mir Notunterkünfte aus Zweigen gebaut, habe ausprobiert, auch im Schnee der höheren Lagen ohne Schlafsack zu schlafen und dabei Tricks gelernt, wie etwa am Lagerfeuer erhitzte heiße Steine als „Wärmflaschen“ zu benutzen.

Ich habe Tiere beobachtet, wilde Kartoffeln und Zwiebeln gegessen und dazu Fichtennadel-Tee getrunken und nach einer Weile habe ich nachts Holz nachgelegt, ohne richtig wach zu werden und bevor das Lagerfeuer ausgegangen war. Ich habe meine ersten Fische gefangen und Wildhühner gebraten.
Die Abende alleine am Lagerfeuer waren mir bald so vertraut, dass ich es mir kaum vorstellen konnte, es wäre jemals anders gewesen.
Wild habe ich anfangs nur recht wenig gesehen, es ist nicht so, dass sich hier Tierherden drängeln wie in der Serengeti, aber mit der Zeit hatte ich einige Beobachtungen zusammen: Elche, Adler, Raben, Biber, Murmeltiere, Baumstachler, Weißwedelhirsche und so einiges mehr und irgendwann auch meinen ersten Schwarzbären.
Der stand plötzlich so da, etwa 15 Meter vor mir, wie aus dem Boden gewachsen. Er ist einfach aus den Büschen aufgetaucht. Und weil Bären nicht sehr gut sehen können und der Wind ungünstig für ihn stand, hat er sich auf die Hinterbeine erhoben und mich ein paar Sekunden lang taxiert.
Mir ist fast das Herz stehen geblieben und als es langsam wieder anfing, ordentlich zu funktionieren hat sich der Bär weg gedreht und ist gemächlich in den Büschen verschwunden.
So geht das übrigens meistens aus, und allermeistens sind sie schon weg, bevor man sie überhaupt sehen kann. Bären sind ja überhaupt so ein Thema. Wie oft bin ich nachts aufgeschreckt, als irgend etwas Schweres geräuschvoll durch das Unterholz gebrochen ist. An weiterschlafen war da nicht zu denken, ich habe mehr als einmal gehofft, was immer es wäre, es solle doch bitte die Richtung weg von meinem Lagerplatz beibehalten. Mehr als einmal habe ich mit wild klopfendem Herzen eine, zwei Stunden hinausgehorcht in die Nacht, und war einfach nur glücklich, den Morgen unversehrt zu erleben.

Im Laufe der Zeit lernte ich auch, dass man selbst sein größter Feind sein kann. Zu wenig Phantasie ist schlecht, weil man mögliche Gefahren vielleicht nicht erkennt, aber zuviel ist noch viel schlimmer. Alleine das Bewusstsein, keine fremde Hilfe verfügbar zu haben, lässt einen Baumstumpf auf den ersten Blick zum mordlustigen Grizzly werden, und jedes kurze Grummeln im Bauch lässt einen erst mal denken, hoffentlich ist’s nicht der Blinddarm!
Im Laufe der Zeit bekommt man aber Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit des eigenen Körpers und man ist auch nicht mehr ganz so fest davon überzeugt, dass sich wirklich alle reißenden Tiere der Wildnis rund um das eigene Camp geschlichen haben, heimtückisch hinter Bäumen und Erdhügeln lauernd, um im nächsten Moment hervorzustürzen und ein Gelage abzuhalten.
Gleichwohl darf man aber nicht vergessen, wenn man Fehler macht oder einfach nur Pech hat, kann so was passieren!
Die erste Lektion, die einen die Wildnis lehrt, ist egal was kommt, die Ruhe zu bewahren und keine Fehler zu machen. Schafft man das nicht, wird man nach wenigen schlaflosen Nächten mit den Nerven am Ende sein und man sollte sich wohl besser auf den Nachhauseweg machen, bevor wirklich Situationen eintreten, denen man nicht gewachsen ist.
Nach einiger Zeit erschrecken einen die üblichen Geräusche des nächtlichen Waldes nicht mehr, aber man ist sofort hellwach, wenn etwas Ungewohntes vor sich geht. Natürlich macht man Fehler, kleine und auch größere, und meist hat man Glück und sie bleiben folgenlos. Aber man muss sich bewusst sein, auch kleine Fehler können sich zur persönlichen Katastrophe ausweiten!
Einmal ein wenig zu lange gezögert, wenn man auf einem großen See mit dem Kanu unterwegs ist und man eigentlich sofort aus dem Wasser müsste, weil Wind aufkommt, kann den Verlust der gesamten Ausrüstung oder des Lebens bedeuten. Einmal nicht rechtzeitig umgekehrt, weil man heute noch über einen Pass möchte, um irgendeinen Zeitplan einzuhalten, obwohl man sieht, dass das Wetter umschlagen könnte, kann verheerende Folgen haben. Eine unsichere Bewegung kann, wenn man auf Blickkontaktnähe wehrhaftem Wild gegenübersteht, einen Angriff auslösen und der richtige langsame Schritt in die richtige Richtung kann eben das verhindern.
Wenn man längere Zeit alleine zurechtkommen will, muss man aus seinen Fehlern lernen, sonst wird die Unternehmung zum Pokerspiel. Man kann von zu hause aus nicht vorhersagen, wie einem dieses Leben da draußen zusagen wird, man kann es nur ausprobieren.


6. Auf Wildniswanderung

Viele Jahre später, im Herbst saßen ein Freund von mir und ich zusammen in der Blockhütte (die für elf Jahre ihre einzige Wohnung war) eines befreundeten kanadischen Ehepaares in der Wildnis im Nordwesten Kanadas.
Wir beschlossen, das Ufer des Chilkos zu zweit mit dem Kanu abzufahren. Wir rechneten mit etwa zwei Wochen Fahrtzeit, weil wir zwischendurch noch Streifzüge in die Berge unternehmen wollten.

Das Kanu ist in den Sommermonaten DER Schlüssel zur Wildnis des Nordens. In ein 17-Fuß-Kanu kann man viel einladen. Zwei Personen mit (nicht zu umfangreichem) Gepäck und Proviant für mehrere Wochen zu tragen, ist für ein solches Boot kein Problem.
In der Dunkelheit des noch frühen Morgens brachten wir unsere Ausrüstung aus der Hütte und luden sie in unser Kanu.
Wir nahmen wenig mit, aber was wir hatten, hatte sich auf vorherigen Touren bewährt. Unsere Papiere und unser Geld vergruben wir in einem Aluminiumbehälter im Wald, damit wir im Falle eines Unglücks nicht alles verlieren würden.
Als wir uns im ersten schwachen Licht des beginnenden Tages vom Ufer abstießen, fühlte ich mich wie James Stewart in dem Filmepos über die Eroberung Amerikas „How The West Was Won“. Es ist kaum möglich, sich hier aufzuhalten ohne solche Assoziationen zu entwickeln.
Das Chilcotin ist wie die gesamte Cariboo-Region immer noch Cowboy-Country und seine Bewohner sind stolz darauf, frei in dieser herrlichen und rauhen Natur zu leben.
Klar, hier ist nicht mehr der gesetzlose Westen. Heute gibt es auch hier Telefon, Fernsehen und Waschmaschinen, aber der weitaus größte Teil des Landes ist immer noch unbewohnt und Cowboy zu sein ist nach wie vor ein Beruf in dieser Region.
Es ist ein herrliches Gefühl, im Kanu lautlos in den klaren Morgen eines Bergsees zu paddeln und dabei keine weiteren Spuren zu hinterlassen als ein paar Kringel auf dem ansonsten spiegelglatten, türkisfarbenen Wasser. Kein Laut außer dem charakteristischen, langgezogenen Ruf eines Eistauchers durchbrach die Stille.
Wir hielten uns etwa ein bis zweihundert Meter vom Ufer weg, nur bei Buchten, die in weniger als einer halben Stunde zu überqueren waren, wählten wir den direkten Weg.

Das spiegelglatte Wasser konnte uns nicht darüber hinweg täuschen, dass auf einem über 80 km langen See sehr rasch starker Wind aufkommen kann, der den schnell meterhoch werdenden Wellen Schaumkronen aufzusetzen vermag.
So manch einer hat mangelnde Erfahrung in solchen Dingen schon mit mehr als nur dem Verlust der Ausrüstung bezahlt.
Das Wetter blieb aber gut und wir sahen im Abstand von mehreren Kilometern einige Weißwedelhirsche, die zum Trinken an den See gekommen waren. Bald würden sie sich in den dichten Wald zurückziehen.
Wir kamen an steilen Uferabschnitten vorbei, blanker Fels, durchzogen von Quarzadern und an sanften, überfluteten Wiesen, an deren Rändern im tieferen Wasser Biberburgen standen. Wenn einen ein Biber bemerkt, und sich gestört fühlt, schlägt er mit dem flachen Schwanz aufs Wasser und produziert einen Knall, der einem Gewehrschuss sehr ähnlich klingt. Nicht nur Artgenossen, auch andere Tiere nehmen diese Warnung zum Anlass, besonders wachsam zu sein und meist sieht man sie dann nur noch irgendwo verschwinden.
Zwischen uns und dem stahlblauen Himmel zog ein Weißkopf-Seeadlerpaar auf Jagd seine Kreise, und des öfteren sahen wir, wie sie Fische aus dem Wasser holten, die sie dicht unter der Oberfläche mit ihren scharfen Augen im Flug aus großer Höhe entdeckt hatten.


{mospagebreak}

Nach dem wir etwa sechs Stunden gepaddelt waren, machten wir am späten Vormittag am Ufer Rast.
Sitzt man zu zweit im Kanu, so hat der hintere die Aufgabe des Steuermanns, der vordere ist der Lotse und „liest“ das Wasser. Auf einem See gibt es im Gegensatz zum schnellen, hindernisbewehrten Wasser vieler Flüsse nicht viel zu lesen, und so hat der Vordermann nicht viel Anspruchsvolles zu tun, soweit es die „Navigation“ betrifft.
Ist man alleine, kommt das Gepäck möglichst nach vorne und hat man keines dabei, ist es geschickt, Ballast in Form einiger großer Steine aufzunehmen, die das Boot stabilisieren. Mit der richtigen Paddeltechnik ist es übrigens nicht nötig, das Paddel von einer Seite auf die andere zu wechseln und sich dabei das Kanu knöcheltief voll zu tropfen.
Bergseen wie dieser haben meist wenig Fischbestand, aber zu dieser Jahreszeit ziehen hier die Lachse durch. Der Tisch ist so reich gedeckt, dass man sie gar nicht angeln muss (was auch sehr restriktiv gehandhabt wird, dazu ist eine spezielle Lizenz nötig), sondern man braucht aus den vielen gestrandeten Fischen nur einen aufzulesen.
Die, die in der Nacht an Entkräftung verendet sind, findet man morgens an den Strand gespült, so frisch wie in keinem Delikatessengeschäft der Welt. Aber Vorsicht, auch die Bären wissen das!
Wir haben uns etwas weiter vom Ufer weg einen flachen Stein geholt, über ein kleines Lagerfeuer gelegt und darauf den Fisch gebraten.

Dazu gab es frisch gebackenes Bannock, fladenähnliches Waldläuferbrot, ebenfalls auf dem Stein gebacken.
So spart man sich das mitschleppen von Pfannen und man muss noch nicht einmal hinterher abspülen (Steine, die lange im Wasser gelegen haben können bei starker Erhitzung wie Granaten explodieren und einen durch Splitter schwer verletzen, also darauf achten, wo üblicherweise der Wasserspiegel steht)!
Gestärkt stiegen wir zurück ins Kanu und fuhren weiter.
Das Ufer war günstig und wir konnten es uns leisten, gute Lagerplätze unbeachtet liegen zu lassen und bis in den frühen Abend hinein zu paddeln.
An einer geeigneten Stelle gingen wir an Land.
An der Art und Weise, wie ein Lagerplatz ausgewählt wird, wie schnell das Lager steht und welche Arbeiten in welcher Reihenfolge ausgeführt werden, kann man erkennen, wie erfahren die Wildniswanderer sind, die hier campen. Unser Lager stand in etwa 20 Minuten.
Wir lagerten auf einer kleinen Landzunge nahe am See. Der Platz war so gewählt, dass wir Wetterschutz und Deckung durch dichte Kiefernverjüngung hatten, diese aber weit genug weg war, dass uns kein unachtsamer Bär ins Bett stolperte.
Unsere Planen hatten wir als Reflektoren aufgestellt und das Feuer brannte in der Mitte. Alles, was wir nicht brauchten, blieb im Rucksack.
Das Boot hatten wir hoch gezogen und mit der Bootsleine an einem Baum gesichert. Wenn es schnell gehen musste, wären wir in zwei Minuten auf dem See gewesen.
Wir aßen noch einen Rest Bannock vom Nachmittag und tranken einen Tee aus Fichtennadeln. Das Kochen von Speisen, zu denen Bären eine überdurchschnittlich hohe Affinität entwickeln, vermeide ich gewöhnlich am Nachtlagerplatz.
Dann hängten wir unseren Proviant in etwa 150 Meter Entfernung zwischen zwei stärkere Bäume, sammelten noch etwas Feuerholz für die Nacht auf, der Strand war ja voll mit Treibholz, und gingen zum Lager zurück. Dabei sahen wir einen Schwarzbären etwa 100 Meter weit vom Lager weg im flachen Wasser stehen. Er hat von uns keine Notiz genommen, und während mein Reisegefährte den Bären im Auge behielt, schürte ich das Feuer etwas höher.
Auf dem Weg zurück in den Busch drehte sich der Bär noch kurz zu uns her und verschwand dann im Dickicht.
Den Lagerplatz deshalb aufzugeben war nicht nötig, erstens bestand kein direkter Anlass zur Sorge und zum anderen waren um diese Jahreszeit jede Menge Bären am See unterwegs.

Es war kühl, und wie so oft behielten wir unsere Kleidung zum Schlafen an.
Ich habe vor Jahren von den Indianern gelernt, wie man Mokassins näht. Je nach Situation und Gelände trage ich sie nachts. Mit einem Paar Strümpfen wärmen sie recht gut und im Notfall, oder wenn man einfach mal raus muss, stolpert man nicht barfuß über Steine und durch Dornen.
Diese Nacht verlief aber ereignislos und der ungehinderte Ausblick auf den sternenübersäten Nachthimmel war wieder überwältigend.
Ich liebe die Momente der Ruhe und Besinnung und denke in dieser halben Stunde vor dem Einschlafen gerne über alles mögliche nach.
Wir hatten wie meistens nur Wolldecken dabei, im Gegensatz zum Schlafsack kann man damit die Wärme der Feuers nutzten, und Funken hinterlassen nur kleine dunkelbraune Punkte an der Oberfläche und brennen keine Löcher hinein. Außerdem mag ich es, wenn mich eine Stunde vor dem ersten Tageslicht die Morgenkälte weckt.
Wenn ich Gäste durch die Wälder führe, die sich ja auch erholen wollen, passe ich mich weitgehend deren Wünschen an, das wird dann meist ein etwas gemächlicherer Einstieg in den Tag. Das macht dann durchaus auch Spaß, es etwas ruhiger anzugehen und sich zu unterhalten und sich über das bisher gemeinsam erlebte zu freuen. Man muss halt von vorneherein die Tagesetappen kürzer planen.
Habe ich längere Strecken vor mir, laufe ich lieber beim ersten Licht los und habe am frühen Nachmittag mein Tagespensum geschafft. Dann kann man in aller Ruhe nach einem gemütlichen Lagerplatz Ausschau halten, ohne dass einen die bevorstehende Dunkelheit dazu zwingt, an eigentlich ungeeigneten Plätzen zu rasten.
So hielten wir es auch an diesem Tag. Wir holten den Proviantsack und das Camp war mit ein paar Handgriffen abgebaut. Wir löschten das Feuer und warfen die größeren, noch glühenden Stücke Holz in den See. Über die Feuerstelle kam etwas Erde, und als wir nach einem Schluck klarem Wasser aus dem See aufbrachen, hätte man schon genauer hinsehen müssen, um zu sehen, dass hier die Nacht über gelagert worden war.
Wir wollten heute hoch in die Berge gehen und sind daher nur solange gepaddelt, bis wir einen Stelle fanden, die einen guten Zugang zum dahinter liegenden Busch bot.
Wir legten an, verstauten unsere Sachen samt Boot in den Büschen, zogen den Proviant wieder hoch und gingen mit leichtem Gepäck für drei Tage los.
Es gab hier weder Wanderwege noch Brücken und so hatten wir auch zwei kleinere Zuläufe zum See zu durchqueren.
Nach kurzer Zeit führte uns unser Weg ins Dickicht.

In vielen Gegenden, die ich besucht habe, gab es wie hier bis auf Ausnahmen keine Wanderwege. Allerhöchstens gab es dann und wann alte Forst- oder Minenstraßen, oder Fire Roads, die zur Bekämpfung früherer Waldbrände angelegt wurden.
Diese alten Straßen bieten oft die Möglichkeit, mit dem Auto ein ganzes Stück in den Busch hineinzufahren, und seine Wanderungen von dort aus zu beginnen. Das hat natürlich den Vorteil, dass man leicht genügend Nahrungsmittel transportieren und eventuell irgendwo ein Depot anlegen kann. Die Wildnis selbst ist meist weglos.
Zwar existieren zum Teil alte Trails, also Pfade, die vor dem Aufkommen des Straßenverkehrs die einzelnen Orte verbanden, oder auch mal neue, in Gegenden, wo es Menschen gibt, von Fallenstellern beispielsweise, aber darauf trifft man eigentlich nur per Zufall oder wenn man gezielt per Karte einen solchen Weg ablaufen will.
Die Wege des Waldläufers im Busch sind die Wildwechsel!
Der Busch kann offen und leicht begehbar sein, aber das ist seltener der Fall, oft ist er so unwahrscheinlich dicht, dass man sich nur mit einiger Kraftanstrengung zwischen den jungen Bäumen hindurch zwängen kann. Dazu kommen fast überall die Stämme von Bäumen, die eines natürlichen Todes gestorben sind und im Extremfall, etwa bei Bränden, meterhoch übereinander liegen können.
Ist man gezwungen, sich durch solches Gelände zu bewegen, vielleicht noch am Hang, kann man das getrost als unmenschliche Schinderei bezeichnen. Im ebenen Gelände benutzt man, wie schon gesagt, am besten die Wechsel, in den höheren Lagen wird das Gelände dann offener. Dabei muss man sich aber darüber im klaren sein, dass Wildwechsel deshalb vorhanden sind, weil sich das Wild das Leben auch gerne etwas leichter macht und ebenfalls nicht durchs dichteste Unterholz gehen möchte.

Probleme kann es dabei am wahrscheinlichsten mit Bären und Elchen geben.
Sieht man sehr frische Bärenspuren, muss man auf jeden Fall auf der Hut sein und im Notfall rechtzeitig umkehren. Dies gilt besonders dann, wenn man auf oder neben dem Wechsel einen Berg aus zusammengescharrten Ästen, Laub und Erde oder ähnliches sieht. Dabei handelt es sich um die Reste einer Bärenmahlzeit und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sich der Besitzer dieser Brotzeit ganz in der Nähe zum Verdauungsschlaf niedergelegt hat.
In dem Fall ist augenblicklich geräuschloser Rückzug angesagt! Den Haufen neugierig beäugen, darin zu stochern und sich zu wundern, was das wohl sein könnte, ist recht ungeschickt und wird vom Bären leicht falsch aufgefasst.
Die nächste Gefahr sind Elche. Mütter mit Kälbern sind immer mit Vorsicht zu genießen, aber wirklich gefährlich sind Elchbullen in der Brunft. Elche, die sich verfolgt fühlen, wenden unter Umständen folgende Taktik an: Sie ziehen erst einmal weiter, als ob sie nichts gemerkt hätten, verlassen den Wechsel an einer geeigneten Stelle mittels einen 3-Meter-Hüpfers in den Wald, laufen für Menschenohren mitunter völlig (!) geräuschlos neben dem Wechsel zurück und attackieren ihrerseits den bisherigen Verfolger von hinten.
Elchbullen verstehen oft keinen Spaß.
Ich bin einmal im dichten Unterholz, die Sicht betrug wenig weiter als zur ausgestreckten Hand, in die Nähe des Einstandes eines Elchbullen geraten. Ich habe ihn nicht gesehen, aber nachdem er mich bemerkt hatte, fingen in cirka 25 Meter Entfernung plötzlich die jungen Bäume an, wie wild hin und her zu schwanken. Er bearbeitete das Gebüsch mit seinen Schaufeln und gab mir mit aggressiven Stampfen und Schnauben zu verstehen, dass ich unerwünscht war.
In so einem Fall ist jede Diskussion über Für und Wider wenig sinnvoll und ich habe mich ruhig aber rasch zurückgezogen.
Ich habe seinen Platz dann so etwa im Bogen von 150 Meter umlaufen, was ziemlich anstrengend war.
Solche Begebenheiten sind kein Grund zur Aufregung, verlangen aber ein sicheres Einschätzen der Situation und unverzügliches Handeln.

Attacken von Pumas sind sehr selten, selbst wenn man will, bekommt man sie fast nie zu Gesicht, und mit Wölfen ist es genauso.
Normalerweise greifen Wölfe auch keinen gesunden Menschen an. Noch seltener sind Vielfraße.
Für mich verkörpert das Heulen der Wölfe die subarktische Wildnis schlechthin.
Eine nicht zu unterschätzende Gefahr in der Wildnis sind Wespen. Ein Freund von mir ist zu nahe an ein Wespennest in einem hohlen Baumstamm geraten, und einige haben ihn gestochen, davon 5 oder 6 in den Kopf. Es ging ihn überhaupt nicht gut, er bekam Schüttelfrost und ich hatte ernsthaft Sorge, ob er die Nacht überstehen würde.
All diese Probleme blieben uns aber erspart und nach einem halbtägigen Aufstieg, standen wir Aug‘ in Auge mit der spektakulären Bergwelt British Columbias.

Damals gab es kein Handy oder Satellitentelefon, wenn man im Busch war, dann war man draußen, ohne Kontakt zur restlichen Welt.
Hätten wir etwa unser Kanu verloren, (oder nicht wiedergefunden, auch das ist manchmal gar nicht so leicht), hätten wir uns auf einen mehrwöchigen Rückweg einrichten müssen..

 


 

7. „Mutter Natur“ oder „Doch, wir können es noch“

Man kann sich nicht vorstellen, wie mächtig einem diese Welt da draußen erscheint, wenn man alleine oder in einer kleinen Gruppe unterwegs ist. Auch wenn man meint, für die Wildnis geschaffen zu sein, es dauert, bis man sich dort wirklich zuhause fühlt7. „Mutter Natur“ oder „Doch, wir können es noch“

Der längere Aufenthalt in der Wildnis lehrt dem aufmerksamen Besucher einige Lektionen.
Die freie, wilde Natur zeigt sich uns in atemberaubender Schönheit und kann uns mit vielen romantischen und sorglosen Momenten erfreuen. Sie ist aber nicht nur das idyllische Paradies, nach dem man sich in seiner Zivilisationsmüdigkeit sehnt.
So beeindruckend sie in ihrer Pracht auch sein mag, sie ist auch grausam und mitleidlos in ihrer Übermächtigkeit. Der sichere Aufenthalt in der freien, wilden Natur erfordert, sich furchtlos in ihr zu bewegen, ihre potentiellen Gefahren aber nie zu unterschätzen.
Wer zuviel Angst hat, macht leicht Fehler, und wer sich über die Risiken nicht im klaren ist, noch leichter.
Wer aber Fehler macht, die folgenlos bleiben, hat Glück gehabt. Hat man einmal gesehen, wie ein Grizzly ein Loch in den Boden gräbt, um an ein Murmeltier, nicht mehr als ein Leckerbissen für den Bären, zu gelangen und sich dabei wie ein Bulldozer in den felsigen Grund arbeitet, weiß man, welch brachiale Gewalt dort draußen herrschen kann, von Blizzards, Lawinen, Überschwemmungen oder ähnlichen Katastrophen gar nicht zu reden.
„Mutter Natur“ ist eine „Rabenmutter“. Sie kümmert sich um keines ihrer Kinder, und verlangt von ihren Bewohnern, auch wenn sie das oft im Verborgenen und auf recht subtile Weise tut, ständig ihre Lebenstüchtigkeit unter Beweis stellen.
Dennoch gestattet sie uns, wenn wir es mit Schläue, Kraft oder anderen Fähigkeiten schaffen können, ein freies und oft auch glückliches und zufriedenes Leben zu führen.
Grundsätzlich sind wir Menschen unserer biologischen Anlagen nach immer noch ein vollwertiger Teil der Natur.

Fast alle Menschen schätzen beispielsweise die Gemütlichkeit eines Lagerfeuers. Wo immer ein Lagerfeuer brennt, signalisieren uns unsere „Urinstinkte“ Wärme, Nahrung, Gesellschaft, Schutz und Wohlbehagen.
Wir haben diese „innere Stimme“ noch, jene auf Erfahrung und auf angeborenes „Wissen“ zurückgreifende, unbewusste Methode der Problemlösung, die immer dann aktiv wird, wenn Aufgaben zu bewältigen sind, die für rein analytisches Denken zu komplex sind.
„Was meinst du, gibt es hier in dieser Gegend Elche?“ fragte ein kanadischer Bekannter von mir seinen indianischen Freund auf einem Jagdtrip. „No, bush wrong colour.“ antwortete der alte Indianer unbestimmt.
Er konnte nicht begründen, warum es seiner Meinung nach hier keine Elche gab, seine Erfahrung sagte es ihm, in dem sie unbewusst alle zur Verfügung stehenden, relevanten Umweltparameter zur Lösungsfindung benutzte. So wie ein guter Mechaniker an feinen Nuancen hören kann, ob ein Motor richtig läuft, findet ein guter Waldläufer seinen Weg durch die Wildnis auch ohne Kompass oder GPS.
Das Erbe unserer Urahnen ist in der Tat in uns allen noch lebendig, übrigens auch im Alltag, nur ist es uns nur oft wenig bewusst.
Vor allem merkt man aber auch, selbst wenn man gut alleine zurechtkommt, dass man auf Dauer, zumindest hin und wieder, menschliche Gesellschaft zum Glück braucht. Auch wie sehr wir von natürlichen Landschaften abhängig sind, wird uns in den industrialisierten Ländern nur nicht so deutlich wie hier draußen.

Jeder, der einmal einige Tage eine trockene Hochebene überquert hat, und mit dem wenigen Wasser, das zu finden war, so haushalten musste, dass die Lippen rissig wurden, oder der hungrig einen Fisch aus einem klaren Bach gefangen hat, und so direkt Lebensenergie aus der Umgebung gewonnen hat, wird das in Erinnerung behalten.
Wer einmal die Pfade der Freiheit gegangen ist, wo auch immer auf der Welt, hat eine Ahnung bekommen von seinen phylogenetischen Wurzeln.
Man kehrt verändert aus der Wildnis nach Hause zurück.

Stefan Pastor

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert